Der Sinn des Leidens


Das Leiden an und für sich hat keinen tieferen Sinn. Es ist ganz einfach ein natürlicher Bestandteil des Seins, ja es ist, neben der Freude, die einzige Methode, die Welt mit unseren Gefühlen wahrzunehmen. Aber: Obwohl das Leiden an sich keinen Sinn besitzt, kann es sinnvolle Arten geben, ihm im Leben zu begegnen.

Der Apostel Paulus schreibt in seinem Brief an die Römer (Röm 5,2-5):
…Und wir rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes. Doch nicht nur deswegen, nein, auch in Drangsal rühmen wir uns - wissend, dass Drangsal Ausharren erwirkt, das Ausharren aber Bewährung, die Bewährung aber Hoffnung. Die Hoffnung jedoch wird nicht zuschanden, weil Gottes Liebe in unsere Herzen ausgegossen ist…

Der Philosoph Martin Heidegger meint "Der Sinn oder die Bedeutung des Seins ist die Zeit."
Was aber ist dann der Sinn des Leidens?

Vermutlich haben sich das die Menschen schon immer gefragt, seit sie überhaupt in der Lage waren zu denken.
Und vermutlich wird es uns auch nicht gelingen, in hundert oder tausend Jahren eine Antwort auf diese Frage zu finden, die erschöpfend ist und jeden Menschen - vor allem aber die, die leiden - zufrieden stellt.
"Warum ich?" oder "Wie kann ein guter Gott so etwas zulassen?" oder "Welchen Sinn, welchen Nutzen, welchen Zweck soll all dies, vor allem aber mein persönliches Leiden haben?" sind die Fragen, die so viele Menschen zum Nachgrübeln, und nicht wenige zum Verzweifeln bringen. Die christliche Kirche (und davor schon die jüdische Tradition) hat versucht, Antworten auf diese Fragen zu geben, aber sie sind zum Teil theologisch-abstrakt, und auch für gebildete Menschen kaum nachzuvollziehen, so etwa im Buch Hiob oder - wie oben angedeutet - beim Apostel Paulus. Oft hört man auch die mystischen und für Manchen nur wenig trostreichen Worte "Der leidende gläubige Christ ergänzt durch sein Leiden das universelle Leiden und hat auf diese Weise Anteil am Leiden Jesu Christi". (An dieser Stelle kann man sich durchaus fragen, ob - wenn es wirklich einen Sinn im Leiden gibt - die Erkenntnis dieses Sinns automatisch Trost spenden muss.)

Für mich persönlich sind weniger transzendente Deutungsversuche hilfreicher.
Man sollte sich in diesem Zusammenhang vielleicht klar machen, dass Sinn oder Bedeutung eine (mehr oder weniger subjektive) "Beigabe" des menschlichen Geistes zu der Realitäten ist, wie wir sie erfahren. Unser Denken verlangt nach einer rationalen Rechtfertigung der Ereignisse, aber das heißt nicht, dass diese Bedeutung ein wesentlicher, also unverzichtbarer Bestandteil der Realitäten sein muss. Als denkende und bewusste Lebewesen können wir es kaum ertragen, wenn die Dinge für uns keinen Sinn ergeben - jedefalls gilt das für viele Menschen der heutigen so genannten aufgeklärten westlichen Gesellschaften.

1. Der Kontrast

Wenn es sich bei den Leiden etwa um eine vorüber gehende Krankheit handelt, kann uns vielleicht die folgende Redewendung einen Anhaltspunkt bieten: "Der Gesunde trägt eine Krone, aber nur der Kranke sieht sie."
Der Sinn des Leidens kann also - so deutet es das Sprichwort an - darin bestehen, sich des Wertes des Nicht-Leiden-Müssens bewusst zu werden. Hierzu ein anschauliches Beispiel: Wenn ich Zahnschmerzen habe, dann kann mir dabei klar werden, wie schön es ist, keine Zahnschmerzen zu haben, und das Bewusstsein, wie viel besser es ist, beschwerdefrei zu sein, kann mich motivieren, in Zukunft mehr zu tun, um einer erneuten Erkrankung vorzubeugen. Das Leiden kann also eine positive pädagogische Funktion haben, die viel wirkungsvoller ist als sanftere intellektuelle Methoden, eben weil ich am eigenen Leib und unmittelbar erfahre, was es bedeutet, zu leiden.
Außerdem ist es eine wunderbare Erfahrung, wenn der Schmerz nachlässt oder ganz verschwindet. Insofern hat das Leiden quasi eine Kontrast-Funktion. Es betont die Wahrnehmung seines Gegenteils. Das gilt nicht nur für Krankheit sondern für sehr viele Formen von Bedrängnis: Hunger, Armut usw. Oft ist es so, dass erst die Begegnung mit dem Leid in einer speziellen Ausprägung uns bewusst macht, was wir daran haben, eben nicht in dieser Weise zu leiden.
Viele große Denker aller Kulturkreise haben immer wieder betont, wie wertvoll und heilsam es ist, sich der einfachen, scheinbar selbstverständlichen Dinge im Leben zu erfreuen. Aber in unserer Konsumgesellschaft greift eine Tendenz um sich, immer mehr haben zu müssen und im Umkehrschluss vom Normalen nicht mehr befriedigt zu werden, d.h. sich an den einfachen Dinge des Lebens nicht mehr substanziell freuen zu können. Bei dieser latenten Gefahr kann uns das Leiden nun auf schmerzvolle aber gerade deshalb auch eindrucksvolle Weise erinnern, welchen Wert bereits das "nackte Dasein" (nämlich in dem Sinne der Abwesenheit von Leiden) für sich genommen hat. So kann es uns helfen, glücklicher zu sein im Angesicht des scheinbar Normalen und Selbstverständlichen.

Wie aber verhält es sich mit sehr schweren, unheilbaren, zum sicheren Tod führenden Krankheiten?
Können die zuvor dargestellten, einen vermeintlich positiven Sinn stiftenden Momente auch in diesem Fall zur Geltung kommen, wo doch sicher ausgeschlossen werden kann, dass der Leidende jemals wieder eine Verbesserung seines bedrängten Zustandes erfährt.
Dazu sollen zwei auf den ersten Blick scheinbare Trivialitäten angemerkt werden: Auch das Nicht-Leiden führt sicher zum Tod. Und: Die beiden oben genannten positiven Momente wirken nicht nur auf den betroffenen Leidenden sondern auch - wenngleich in möglicher Weise abgeschwächter Form - auf seine Mitmenschen. Beide Argumente haben durchaus mehr Gewicht als es zunächst den Anschein haben mag. In unserem Kulturkreis bzw. in der heutigen Zeit wird immer wieder und wie ich finde sehr plakativ wiederholt, eine Krankheit sei gerade deshalb besonders schlimm, wenn sie einen tödlichen Ausgang hat. Der Tod und mithin das Sterben scheint nicht mehr in den Bereich der Normalität zu gehören - wir haben ihn in die Sphäre des Grauenhaften Widernatürlichen abgeschoben. Dabei ist der Tod vermutlich die unzweifelhafteste Normalität überhaupt. Unser Leben ist endlich - ob wir leiden oder nicht, also ist der Tod an und für sich neutral zu bewerten, was das Leiden betrifft. Natürlich ist die Vorstellung eines Todes ohne Leiden (wenn das überhaupt möglich ist) angenehmer als die eines Todes unter entsetzlichen Schmerzen - aber das gilt eben auch für das Leben, also für das ganze Sein. Was das zweite Argument angeht, möchte ich noch einmal auf das Beispiel mit den Zahnschmerzen zurückkommen. Für mich persönlich ist es bereits ein sehr wirkungsvoller Anstoß zur Prophylaxe, wenn ich mitbekomme, wie furchtbar ein Bekannter darunter leidet. Dies kommt auch - wenngleich in verzerrter Form - in der Redewendung "Er kann ja immer noch als schlechtes Beispiel dienen." zum Ausdruck. Ähnliches gilt für die Freude am Nicht-Leiden, in diesem Fall am Nicht-Selbst-Leiden. Wie sonst wäre die Popularität der unzähligen "Schadenfreude"-Sendungen zu erklären, die unsere Medien heute überfluten.

Exkurs: Sinn und Zweck

An dieser Stelle ein kleiner semantischer Exkurs. Obwohl die Wörter "Sinn" und "Zweck" mitunter synonym verwendet werden, sollte es uns im Zusammenhang mit dem Begriff des Leidens keinesfalls zu der Schlussfolgerung verleiten, dass man anderen Menschen Leiden vorsätzlich zufügen dürfte, um damit einen gewünschten Zweck zu erzielen. Die bloße Vorstellung, das Leiden als ein Instrument einzusetzen, um etwa Menschen mittels Folter gefügig zu machen oder bei der Erziehung irgendwelche Verhaltensregeln durchzusetzen, ist vermessen und berührt bzw. überschreitet die Grenze der Perversion.
Wenn wir nach einem Sinn des Leidens suchen, dann um zu verstehen und um zu trösten oder wenigstens nicht zu verzweifeln, aber keinesfalls um zu kontrollieren oder gar zu beherrschen. Jeder Mensch sollte stets bemüht sein, das Leiden in der Welt zu vermindern oder abzumildern; unter keinen Umständen und zu keinem, wie auch immer gearteten Zweck sollten wir der Menge an Leid weiteres Leid hinzufügen!
Für religiöse Menschen ist es in Bezug auf Gott keine Anmaßung, den Sinn jedes Ereignisses - mithin auch den Sinn eines individuellen oder kollektiven Leidens - einem Zweck, d.h. einem göttlichen Willen gleich zu setzen. Jedoch einer transzendenten Absicht aus "Gottes unergründlichem Ratschluss", siehe Hiob. Diese Assoziation erscheint theologisch legitim, allerdings vermag sie uns intellektuell nicht zu befriedigen, denn besagter Ratschluss ist eben unergründlich, also per Definition unserer beschränkten Erkenntnisfähigkeit unzugänglich.

2. Der Fokus

Eine weitere "Funktion" von Bedrängnis kann darin bestehen, die Wahrnehmung auf "das Wesentliche" zu schärfen.
In unserer Überflussgesellschaft haben uns sehr schnell an viele Annehmlichkeiten gewöhnt, die nett aber eigentlich überflüssig sind - überflüssig im Sinn von "nicht wirklich lebensnotwendig".
Von einigen dieser Annehmlichkeiten werden wir geradezu abhängig, obwohl es sich im Kern der Sache um Nebensächlichkeiten handelt, welche auf diese Weise maßlos überbewertet sind.
Oft kann uns dann nur ein "heilsamer Schock" wie eine Bedrängnis aus dieser verzerrten Wahrnehmung befreien, etwa klar machen, wie wenig bedeutsam es z.B. ist, immer perfekt gestylt zu sein, von einem Termin zum nächsten zu hetzen, um ja nicht "Großartiges" zu verpassen usw.
Wer einmal ein paar Tage krank zuhause danieder liegt und dessen Denken zuerst und zuletzt um die eigenen Schmerzen kreist, für den rücken solche Nebensächlichkeiten schnell in den Hintergrund und erhalten auf diese Art wieder eine angemessene Einordnung im Weltgefüge unserer persönlichen Lebensumstände.
Wie viel mehr wiegt doch die Gesundheit als die Karriere? Wie viel mehr ein harmonisches Familienleben oder ein ruhiger erholsamer Schlaf, die Möglichkeit auszuspannen ohne Stress? Diese und ähnliche Fragen werden eindeutig beantwortet durch eine persönlich durchlittenes Leiden.

3. Solidarität

Menschen in Bedrängnis neigen dazu, ihre sonst üblichen Aversionen untereinander hintan zu stellen und sich in einer besonderen Weise zu solidarisieren.
Unzählige Spielfilme und Romane haben die prototypische Szene dargestellt, in der eine Gruppe von Menschen, die etwa durch das Schicksal gemeinsam eine katastrophale Situation erleben und durchleiden müssen, viele im sonstigen Umgang miteinander unumstrittene Konventionen, insbesondere aber isolierende Vorurteile wenigstens temporär ignorieren und "gemeinsame Sache" machen, um sich gegenseitig beizustehen. Scheinbar schlummert im Menschen so etwas wie ein Urinstinkt - ein Herdentrieb -, welcher uns auf eine mehr oder weniger intuitive Weise vermittelt, dass menschliche Gesellschaft besser dazu geeignet ist, mit problematischen oder bedrohlichen Situationen umzugehen, als es das Individuum vermag. Diese Motiv liegt auch der psychologischen Projektion zugrunde: "Hilf Anderen, du könntest an ihrer Stelle sein."
Bedrängnis schweißt die Bedrängten zusammen - das haben z.B. Militärstrategen in Kriegen immer wieder beobachten können. Bei großer Freude haben die Menschen ebenfalls das Bedürfnis, in der Gruppe zu feiern, wie sie sich im Leiden solidarisieren, obwohl der Effekt in schlimmen Situationen mitunter größer und nachhaltiger zu sein scheint. Nicht von ungefähr lautet eine Redewendung "zusammen durch Dick und Dünn gehen".
Leiden vermag uns einander näher zu bringen. Dies ist auch im Zusammenhang mit (2) zu sehen, denn im Fokus der Abwägung wird die gegenseitige Unterstützung in der Gruppe als wertvoller eingeschätzt als Klassenunterschiede, persönliche Vorlieben etc.